
Leben & Sterben; Cover: S. Fischer Verlag
Der Titel des Buches hätte kaum größer gewählt werden können. Es geht der durch ihre Tätigkeit als Vorsitzende (2020-2024) des Deutschen Ethikrats bekannten Ethikerin Alena Buyx um das Ganze – um Leben und Sterben. Im Untertitel ist formuliert, dass die „großen Fragen“ in den Blick kommen. Und was dann folgt, lässt aufhorchen: ethisch entscheiden – in aktiver Formulierung. Hier ist nicht von Entscheidungen, Informationen, Ratschlägen oder Positionen die Rede. Das Buch hat somit einen hohen Anspruch: Es will zum ethischen Entscheiden befähigen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieses wird im Buch eingelöst.
Hierzu geht Buyx auf eine für ein ethisches Sachbuch ungewöhnliche Weise vor, denn die Lesenden werden im Buch immer wieder ganz direkt angesprochen. Dieses Vorgehen lässt kaum Distanz zu. Man kann sich den Themen und ethischen Entscheidungssituationen nicht entziehen. Immer wieder wird man in einen Dialog einbezogen und zur Abwägung, Positionierung und Entscheidung aufgefordert – aber stets auch dazu befähigt, indem Argumentationen nachvollziehbar gemacht und Lösungsansätze aufgezeigt werden.
Besonders durch eindrücklich geschilderte Fallbeispiele aus der klinischen Praxis (aus dem wirklichen Leben also), mit denen das Buch insgesamt sowie einzelne Kapitel und Themenbereiche beginnen, sind die Schilderungen plötzlich ganz unmittelbar und nah, so dass man quasi „mitten im Geschehen“ ist.
Als zentrales Anliegen ethischer Debatten in einer Gemeinschaft benennt Buyx, dass es nicht darum gehe, dass am Ende alle dieselbe Position einnehmen; denn eine gute Ethik lebt auch von der Unterschiedlichkeit der Positionen. Letztlich bedarf es eines stabilen „Korridors der Gemeinsamkeiten“ (S. 19), um Allgemeingültiges festzulegen und einen Handlungsrahmen für Mitglieder einer Gesellschaft zu umschreiben. Bei individuellen Entscheidungen – und das ist eine entscheidende Perspektive im Blick auf Themen des Lebens – gilt dann allerdings die je persönliche Sicht und Bewertung. Die Lesenden werden an vielen Stellen aufgefordert und ermutigt, ihre persönlichen Einstellungen zu reflektieren. Auch die Autorin verrät immer wieder ihre eigene Positionierung in den unterschiedlichen ethischen Fragen.
Das Buch besteht aus vier Kapiteln, die jeweils mit einem bedeutungsstarken Verb überschrieben sind, das den Themenbereich kennzeichnet. Es beginnt nach einer ausführlichen Einleitung und thematischen Grundlegung mit „werden“ und damit mit den ethischen Herausforderungen am Lebensanfang (Frühgeburten, künstliche Befruchtung und Präimplantationsdiagnostik). Als Zweites geht es um „sterben“ und diesbezüglich um Palliativmedizin, Sterbehilfe sowie assistierten Suizid und der mit alldem verbundenen Entscheidungsfindung. Im Kapitel „sorgen“ wird der Handlungsrahmen für gutes ethisches Entscheiden thematisiert, wobei insbesondere das Arzt-Patienten-Verhältnis und dessen gute Ausgestaltung in den Blick kommen. Der letzte große Bereich ist mit „formen“ überschrieben und blickt auf gegenwärtig stark diskutierte neue Technologien wie künstliche Intelligenz und smarte Robotik in der Medizin.
Alena Buyx hat dieses Buch für alle am Thema Interessierten geschrieben. Es soll gerade kein ausdifferenziertes ethisches Fachbuch sein. Um daher alle Bereiche allgemeinverständlich ansprechen zu können, entscheidet sie sich für die Darstellung großer thematischer Bögen. Viele fachliche Detailaspekte werden so zu Recht ausgespart. Stets verweist die Autorin aber auf entsprechende, wohlausgewählte Fachliteratur, die in einem umfangreichen Anhang zum Weiterlesen und vertieften Informieren angeführt wird.
Oft ist dieses Vorgehen des Aussparens von ausdifferenzierten Fachdiskursen für den Gesamtduktus des Buches hilfreich, an manchen Stellen wäre aber doch etwas mehr Ausführung zielführender gewesen; z.B. bei der Frage nach den Begründungsansätzen in der Ethik. Die Autorin argumentiert deontologisch, prinzipienorientiert. Hier hätte statt des ausschließlichen Verweises auf Fachliteratur aus dem Anhang in Bezug auf andere Begründungsansätze eine Darstellung einer gewissen Auswahl dem Anliegen des Buches im Hinblick auf die Befähigung zu gutem (und damit auch gut begründetem) ethischen Entscheiden gut getan. Auch hätten ein paar Absätze mit einer Argumentation, warum die Autorin den deontologischen Begründungsansatz bevorzugt, für mehr Transparenz an dieser zentralen Schlüsselstelle – auch mit Blick auf die gesamte Argumentation des Buches – gesorgt. Das hätte etwas mehr „Augenhöhe“ mit den Lesenden geschaffen, was ja grundsätzlich das Anliegen der Autorin ist. An dieser Stelle geht es etwas zu schnell und wirkt daher leicht paternalistisch.
Die Lektüre dieses Buches sei allen empfohlen, die sich den herausfordernden Fragen der guten Entscheidungen in Fragen des Lebens stellen wollen und sich entsprechende ethische Kompetenzen und Kenntnisse erwerben möchten. Und fast noch mehr sei es auch all jenen empfohlen, die diesen großen Entscheidungsfragen bislang eher ausweichen und die Konfrontation mit diesen zu vermeiden versuchen. Denn das Buch zeigt eindrücklich auf, dass man den ethischen Fragen im Laufe des Lebens nicht wird entkommen können. Entscheidungen, die das eigene Lebens betreffen, sind nicht delegierbar. Diese Entscheidungen nicht eigenverantwortlich zu treffen, wäre ein fahrlässiges Aufgeben von Freiheit und ein Zurückweichen vor verantwortlicher Lebensführung. Dieses Buch macht gerade auch in eher schweren Themen „ethik-fit“ und hilft damit bei den lebenswichtigen Entscheidungen.
Und zuletzt: Warum ist das Buch im Kontext von Theologie im Fernkurs gewinnbringend? Denn schließlich ist es ja nicht aus der Perspektive der theologischen Ethik verfasst, sondern von einer Fachvertreterin der Ethik in der Medizin.
Dieses Buch hat gerade darin seine Stärke, dass es eine Vielfalt von Perspektiven und Positionen in der Ethik einfühlsam vor Augen führt – in aller Offenheit und ohne von einer spezifischen weltanschaulichen Positionierung geleitet zu sein. All diesen Sichtweisen gilt es sich auch mit einer sensiblen Aufmerksamkeit in theologischen Diskursen zu stellen. Mit diesem Buch erlangt man das Rüstzeug dazu und erfährt, dass auch jenseits christlicher Sichtweisen nicht beliebig, sondern verantwortlich in Fragen des Lebens und Sterbens argumentiert und abgewogen wird.
Denn in einer pluralen Welt ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass es gerade in der Ethik nicht die eine Antwort gibt, auch wenn dies für sich selbst klar ist. Dieses Buch ermutigt somit schließlich auch zur Toleranz gegenüber anderen Positionen und Haltungen. Damit leistet es einen wertvollen Beitrag zur Verständigung und zum gegenseitigen Verständnis im gesellschaftlichen Miteinander.

Dr. Stefan Meyer-Ahlen ist der Leiter von Theologie im Fernkurs.