Diese reformatorische Entdeckung, die das Konzil von Trient mit anderen Worten im Grunde nachvollzog, traf auf eine Praxis, die Luther heftig kritisierte. Es ging um den Ablass, eine im Hochmittelalter entstandene Form des Nachlasses zeitlicher Sündenstrafen. Die Sünden der Menschen selbst werden durch die Beichte vergeben, doch es bleibt ein Rest zurück, der den Menschen weiterhin von der vollen Begegnung mit Gott trennt. In einem Bild ausgedrückt: Wenn ein Ehemann sich nach einem Streit wieder mit seiner Frau versöhnt und sie sich gegenseitig die Verzeihung zugesprochen haben, hilft ein Blumenstrauß oder die Einladung zu einem guten Abendessen, noch die letzten Reste von Distanzierung zu überwinden. Eigentlich eine gute Idee, solange ein solcher Ablass auf einer spirituellen Ebene blieb und etwa mit einer Wallfahrt verbunden war. Immer noch akzeptabel, wenn ein Ablass mit einer Geldspende zugunsten eines öffentlichen Bauprojekts, etwa einer Brücke, verknüpft wurde. Nicht mehr akzeptabel, wenn damit private Schulden abgetragen werden sollten, die durch einen offenen Bruch des kirchlichen Rechts entstanden waren. So im Fall Albrechts von Brandenburg, der eine dritte Diözese als Bischof übernehmen wollte, die dafür notwendigen Dispensen an Rom nicht zahlen konnte und dafür mit der Hälfte des Erlöses aus dem Ablass für den Neubau der Peterskirche in Rom seine Schulden an die Firma Fugger bezahlen durfte. Ein riesiger Skandal, den Luther theologisch aufgearbeitet wissen wollte.
So kamen in den Jahren nach 1517 mehrere Konfliktlinien zusammen: Politisch ging es um die Macht im Reich, zumal nach dem Kaiserwechsel von Maximilian zu Karl V. Innerkirchlich wurde Luther als Ketzer verurteilt, von vielen jedoch als Reformator einer reformbedürftigen Institution gefeiert. Und theologisch entfaltete Luther in den Jahren bis 1525 sein theologisches Programm, das dann zu einer neuen christlichen Konfession führte. Mit seinen drei großen Schriften von 1520 waren die theologischen Koordinaten der lutherischen Reformation festgezurrt: Zentral ist die Rechtfertigung aus dem Glauben allein (sola fide), durch Gottes Gnade (sola gratia), nicht durch gute Werke. Wohl sind diese der Erweis eines Lebens aus dem Glauben. Die christologische Zentrierung zeigt sich in der Berufung auf die Bibel als einzige und letzte Glaubensinstanz (sola scriptura). Im nominalistischen Sinn, nach dem es keine Universalbegriffe, sondern nur individuelle Einzeldinge geben könne, sah Luther die Kirche nicht mehr als „mystischen Leib Christi“, sondern in ihrer Reformbedürftigkeit, die aber nicht durch das Papsttum, sondern nur durch eine repräsentative Konzilsversammlung gelöst werden könne. Der Appell an ein Konzil war gleichzeitig die Absage an den Papst, der für Luther zum Antichrist mutierte.
„Alles Luther“ war die Reformation nur in den ersten Jahren. Ab 1525 traten andere Akteure in den Vordergrund, Philipp Melanchthon, die Städte und die Fürsten. Ein Protest gegen den Reichstagsabschied 1529 brachte den Namen „Protestanten“ ein, die Vorlage einer Bekenntnisschrift auf dem Augsburger Reichstag 1530, die sog. „Confessio Augustana“, kann als Gründungsdokument einer neuen Konfession bezeichnet werden. In der Folgezeit kultivierte jede Konfession ihre Eigenheiten. Das betraf den Alltag in der Betonung von Unterscheidungsriten und sprachlichen Ausschließungen. Auf protestantischer Seite pluralisierten sich die Konfessionen. Zu lutherisch gesellten sich zwinglianisch, calvinistisch und anglikanisch. Im 17. Jahrhundert konnte man auch methodistisch oder baptistisch werden. Die Vielfalt der Möglichkeiten, protestantisch zu sein, kann man am besten in den USA studieren.