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Die Deutung des Gewissens bei Thomas von Aquin (1225-1274)

01. August 2025

In schwierigen Entscheidungen berufen wir uns gern auf unser Gewissen. Es scheint eine innere Stimme zu sein, die uns immer genau und zuverlässig sagt, was wir tun und was wir lassen sollen, was gut und was schlecht ist. Die unantastbare Würde des Menschen hängt damit zusammen, dass sich in seinem Gewissen ein unbedingter sittlicher Anspruch meldet. Auch die christliche Tradition – nicht zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil – hat davon gesprochen, dass der Mensch in seinem Gewissen die Stimme Gottes vernehmen könne, die ihn zum Tun des Guten und zum Unterlassen des Bösen auffordert. Die Gewissensfreiheit des Einzelnen gehört entsprechend zu den zentralen Grundrechten des Menschen.

Doch, so verbreitet die Berufung auf das eigene Gewissen ist und so hoch seine Bedeutung eingeschätzt wird, so sehr wird die Verlässlichkeit dieser inneren Stimme auch in Zweifel gezogen. Wird das Urteil unseres Gewissens nicht doch durch unsere Erziehung und damit durch gesellschaftliche Konvention geprägt? Liegen nicht verinnerlichte Ängste und Strafandrohungen zu Grunde? Ist das, was wir als sittlichen Anspruch erfahren, nicht Resultat von Überlebensstrategien, die sich in der Evolution herausgebildet haben? Auch scheint das Gewissen verschiedenen Menschen in derselben Situation oft Unterschiedliches, ja sich Widersprechendes zu sagen. Können wir uns also auf diese innere Stimme verlassen? Kann unser Gewissen nicht auch irren?

1. Gewissensspruch und Gewissensanlage

Angesichts solcher Fragen kann es hilfreich sein, auf Überlegungen zurückzugreifen, die bereits in der mittelalterlichen Theologie angestellt wurden. So lassen sich in der Gewissenslehre des Thomas von Aquin, dessen 800. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, Unterscheidungen finden, die Perspektiven für ein heute angemessenes Verständnis des Gewissens geben können. Thomas hat diese Lehre vom Gewissen maßgeblich im Rahmen seiner Schrift De veritate (Über die Wahrheit) entfaltet.1 Grundlegend ist hier die Unterscheidung zwischen dem konkreten Gewissensspruch (conscientia) und der allgemeinen Gewissensanlage (syndéresis). Was ist mit dieser Unterscheidung gemeint?

Wenden wir uns zunächst der conscientia zu. Für Thomas besteht sie darin, unser Wissen auf unsere Handlungen anzuwenden. Das bedeutet zum einen, dass wir – im Sinne des Mit-wissens (con-scientia) oder Bewusstseins – um unser Handeln wissen; wir wissen, dass wir es sind, die handeln, dass es unsere Handlung ist und nicht nur eine zufällige, unwillkürliche Bewegung. Zum anderen hat für Thomas die conscientia die Bedeutung, ausgehend von unserem Wissen unser Handeln moralisch zu beurteilen: entweder bevor wir handeln – das Gewissen ist dann anspornendes oder verpflichtendes Gewissen; oder nachdem wir gehandelt haben – das Gewissen ist dann schlechtes oder gutes, anklagendes oder entschuldigendes Gewissen.

Doch welches Wissen wendet die conscientia auf unser Handeln an, wenn sie es moralisch beurteilt? Thomas unterscheidet dazu drei Arten des Wissens, die in das moralische Urteil mit einfließen: das Wissen der syndéresis, der sapientia und der scientia.

Mit der scientia (Wissen) ist alles konkrete Sachwissen gemeint, Wissen über die Wirklichkeit, wie sich die Dinge verhalten, was für Folgen sie haben, aber auch welche rechtlichen Bestimmungen es gibt. Im moralischen Urteil ist solches Sachwissen unverzichtbar. Ein Arzt, der eine verantwortliche Therapie-Entscheidung treffen will, muss über entsprechende medizinische, biologische und pharmazeutische Kenntnisse verfügen.

Um unser Handeln moralisch zu bewerten, muss aber noch die sapientia (Weisheit) hinzukommen. Damit ist die Einsicht in grundlegende Prinzipien des moralischen Handelns gemeint, etwa die Kenntnis der Gebote Gottes oder andere moralische Grundüberzeugungen. Dazu gehört das Wissen um das Tötungsverbot, den fundamentalen Wert des menschlichen Lebens, das Gebot die Wahrheit zu sagen und die Treue zu wahren; heute könnte man auch die Überzeugung von der Bewahrung der Schöpfung und von der Bewahrung des Friedens durch Gerechtigkeit hinzuzählen.

Thomas kennt aber noch eine dritte Art des Wissens, das der syndéresis, die auch als Urgewissen bezeichnet wird. Gemeint ist damit das Wissen um das Grundprinzip moralischen Handelns überhaupt: Das Gute ist zu tun und das Böse zu meiden. Im Unterschied zum Wissen der sapientia, das bereits inhaltliche Wertvorstellungen und Gebote umfasst, geht es hier um ein rein formales Grundprinzip. Es ist keineswegs überflüssig, sondern grundlegend, weil es uns – auch gegen unsere Neigungen, unseren Egoismus und unsere Bequemlichkeit – auffordert, das Gute auch tatsächlich zu tun und das Böse tatsächlich zu meiden.

2. Irrtumslosigkeit und Irrtumsanfälligkeit des Gewissens

Diese Unterscheidung ist sicher eine Abstraktion, die auf einer Analyse des Gewissensphänomens beruht. Thomas will nicht sagen, dass wir bei Gewissensentscheidungen immer der Reihe nach dieses unterschiedliche Wissen abrufen. Dieses Wissen fließt vielmehr gleichzeitig in die innere Stimme unseres Gewissens mit ein. Dennoch ist die Unterscheidung nützlich, um die Bedeutung des Gewissens gerade angesichts der eingangs gestellten Fragen besser verstehen zu können. Für Thomas jedenfalls ist die Unterscheidung des dreifachen Wissens, das in das Gewissensurteil einfließt, erhellend, wenn es um die Frage geht, ob unser Gewissen irren kann oder ob es immer irrtumsfrei sagt, was wir tun und lassen sollen.

So hält er in einem ersten Schritt fest, dass die syndéresis, also das Urgewissen des Menschen, in seinem Wissen, dass das Gute zu tun und das Böse zu meiden ist, nicht irren kann. Weil es sich um eine rein formale Aussage handelt, mit der noch nicht gesagt ist, worin konkret das Gute oder das Böse besteht, ist das Wissen um dieses Prinzip irrtumsfrei. Es kann keinen Zweifel daran geben, ob es tatsächlich das Gute ist, das getan werden soll. Ein Irrtum darin ist von vornherein ausgeschlossen. Für Thomas ist dieses Wissen dem Menschen vielmehr angeboren und von Natur aus eingegeben. Wir müssen es nicht erst erlernen oder erwerben, sondern bringen es immer schon mit. Wir setzen es immer schon voraus, wenn wir irgendeine moralische Bewertung abgeben. Wenn wir sagen, dass Lügen moralisch schlecht ist, setzen wir immer schon voraus, dass das Schlechte das ist, was wir meiden sollen. Wenn wir als Kind die erste moralische Ermahnung hören, verstehen wir sie nur, weil wir wissen, dass das Gute zu tun und das Böse zu meiden ist. Thomas nennt deshalb dieses Grundprinzip auch „Licht“ unserer moralischen Urteilsfähigkeit: das Licht, das man selbst nicht sieht, in dem man aber alles andere sehen kann. Entsprechend ist es für Thomas auch unverlierbar. Es kann lediglich sein, dass man durch die Gewöhnung an das Schlechte die Stimme dieses Grundprinzips nicht mehr hört.

Die beiden anderen Arten des Wissens dagegen, die sapientia und die scientia, können für Thomas einem Irrtum unterliegen. So können bereits die moralischen Grundüberzeugungen irrig sein. Thomas führt etwa jemanden an, der meint, der Eid sei von Gott verboten; oder er verweist darauf, dass die Germanen (angeblich) Diebstahl für legitim hielten. Aber auch auf der Ebene der scientia kann man sich täuschen. So kann man sich im Blick auf gesetzliche Vorgaben irren, einen Sachverhalt falsch einschätzen oder die Konsequenzen des eigenen Handelns nicht absehen. Ein Arzt kann in der Diagnose irren und das falsche Medikament verschreiben oder er kann bei richtiger Diagnose eine ungeeignete Therapie einleiten.

Ausgehend von dieser Unterscheidung zwischen dem irrtumsfreien, angeborenen und unverlierbaren Wissen um das moralische Grundprinzip und den beiden anderen Formen des irrtumsanfälligen Wissens um moralische Gebote und Werte sowie um die konkrete Wirklichkeit lässt sich nun im Blick auf unsere eingangs gestellten Fragen Folgendes festhalten: Insofern sich im Gewissen der grundlegende, aber formale moralische Anspruch, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, meldet, ist das Gewissen irrtumsfrei und unbedingt verlässlich. In diesem Sinne lässt es sich auch theologisch als Stimme Gottes verstehen. Im Blick auf die beiden anderen Arten des Wissens dagegen kann man durchaus davon sprechen, dass hier über die Erziehung moralische Vorstellungen der Tradition, der Gesellschaft und der jeweiligen Kultur, aber auch genetische und biologische Vorgaben mit in das Gewissensurteil einfließen und es bedingt, relativ und auch irrtumsanfällig machen.

Grafik zur Unterscheidung und Zuordnung der verschiedenen Begriffe und Aussagen über das Gewissen

Grafik zur Unterscheidung und Zuordnung der verschiedenen Begriffe und Aussagen über das Gewissen; Stephan Ernst

3. Entschuldigt das irrende Gewissen?

In seinen Überlegungen zur Irrtumsfähigkeit des Gewissens stellt sich Thomas aber auch die Frage, ob das irrende Gewissen unbedingt verpflichtet. Wird man schuldig, wenn man seinem irrenden Gewissen folgt? Entschuldigt das irrende Gewissen denjenigen, der ihm gemäß handelt? Thomas unterscheidet im Blick auf diese Frage zwei Fälle.

Ein erster Fall besteht darin, dass ich gegen das irrende Gewissen handle. Das Gewissen stellt mir aufgrund eines fehlerhaften Wissens irrtümlich etwas als Gut und damit als zu tun vor Augen, das objektiv gesehen falsch und schlecht ist, und dennoch handle ich gegen das Urteil meines Gewissens. Vielleicht tue ich damit, ohne es zu wissen, sogar gerade das, was eigentlich moralisch gut ist. Im Blick auf diesen Fall geht Thomas von dem Grundsatz aus: Alles, was gegen das Gewissen geschieht, ist Sünde. Wer also nicht das tut, was ihm sein eigenes Gewissen sagt, wer vielmehr gegen das Urteil seines Gewissens handelt, wird dadurch moralisch schuldig. Dies gilt auch dann, wenn das Gewissen irrt, wenn es also eine Handlung als gut beurteilt, die objektiv gesehen moralisch schlecht ist. Auch dann – sagt Thomas – soll man diesem Gewissensurteil folgen. Maßgeblich für das sittliche Handeln des Menschen ist also in der Sicht des Thomas das, was der einzelne subjektiv aufgrund seiner Vernunfteinsicht und seines Wissens für gut und richtig hält. Allerdings differenziert Thomas noch etwas genauer.

Ein zweiter Fall dagegen sieht vor, dass man dem irrenden Gewissen gemäß handelt. Auch hier gebietet das Gewissen irrtümlicherweise etwas objektiv Schlechtes, das man aber aufgrund fehlerhaften Wissens für gut hält. Die sich hier anschließende Frage, ob man in diesem Fall subjektiv entschuldigt sei, da man ja dem Gewissen gefolgt ist, beantwortet Thomas durch eine weitere Unterscheidung. Zum einen nämlich kann das fehlerhafte Wissen seinen Grund darin haben, dass man sich – etwa aus Nachlässigkeit – nicht informiert hat. In diesem Fall ist der Handelnde nicht entschuldigt. Zum anderen aber kann es vorkommen, dass sich der Irrtum nicht vermeiden ließ, etwa weil man bestimmte Folgen des Handelns nicht absehen konnte oder weil nicht genügend Zeit war, um sich ausreichend zu informieren. In diesem Fall des unverschuldeten Irrtums ist für Thomas derjenige, der seinem irrenden Gewissen folgt, entschuldigt.

4. Perspektiven für heute

Diese Überlegungen zum irrenden Gewissen mögen kompliziert und theoretisch erscheinen. Dennoch lassen sich gerade aufgrund solcher Differenzierungen Perspektiven für ein auch heute angemessenes Verständnis des Gewissens entnehmen.

  • Ein erster Aspekt besteht darin, dass für Thomas das subjektive Gewissen des Einzelnen die letzte Instanz ist, an der sich der Mensch in seinem moralischen Handeln ausrichten soll. Denn das Gewissen fordert uns als syndéresis grundlegend, unbedingt und irrtumsfrei dazu auf, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Ob unser Handeln moralisch gut oder schlecht ist, entscheidet sich deshalb nicht daran, ob wir einem äußerlichen, von einer Autorität (und sei es auch die Autorität Gottes) vorgelegten Gesetz folgen. Es entscheidet sich vielmehr allein daran, ob wir unserem eigenen subjektiven Gewissen und der Einsicht unserer eigenen Vernunft folgen oder ob wir gegen sie handeln. Diese Einsicht, die Thomas hier bereits im 13. Jahrhundert formuliert, wirkt erstaunlich modern.
  • Allerdings kann das Gewissen – wie gesehen – auf verschiedenen Ebenen des Wissens irren. Ein solcher Irrtum kann entschuldigt werden, wenn man etwas beispielsweise aus Zeitgründen nicht wissen konnte; er kann aber auch schuldhaft sein, wenn man es vernachlässigt, sich angemessen zu informieren. Zu einer wirklichen Gewissensentscheidung gehört es deshalb auch, sich über den Sachverhalt, um den es in der anstehenden Entscheidung geht, kundig zu machen. Nur so kann die Gewissensentscheidung eine Entscheidung sein, die man verantworten kann. Es geht also nicht um einen „Schnellschuss aus dem Bauch heraus“, sondern um eine überlegte, die Chancen und Risiken sowie die guten und schlechten Folgen einer Handlung abwägenden Entscheidung. Dafür ist es oft hilfreich, sich mit anderen zu beraten und deren Meinung einzuholen. Beratung schränkt die eigene, freie Gewissensentscheidung nicht ein, sondern kann sie fördern.
  • Um die eigene Gewissensentscheidung zu fördern, ist aber auch Gewissensbildung eine unverzichtbare Aufgabe. Sie betrifft nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern Menschen in jedem Alter. Gewissensbildung ist ein lebenslanger Prozess. Er beginnt sicher zunächst mit einer grundlegenden Wertevermittlung durch Erziehung, Tradition und Vorbild. Dann aber geht es in der Gewissensbildung darum, die eigene moralische Urteilsfähigkeit zu entwickeln. Unsere moralischen Entscheidungen sollten sich letztlich nicht an Lohn und Strafe oder an gesellschaftlichen Konventionen orientieren, sondern an der eigenen Einsicht unserer Vernunft in das, was moralisch gut und schlecht ist. Für Thomas war dies das natürliche Sittengesetz, das die Vernunft des Menschen hervorbringt. Während jedoch im Mittelalter der Inhalt dieses Gesetzes bis in konkrete Vorschriften eindeutig schien, ist heute solche Eindeutigkeit oft nicht mehr gegeben. Wir erleben heute einen Wertepluralismus, und viele Entscheidungen finden unter Unsicherheitsbedingungen statt. Wichtig ist deshalb für die Gewissensbildung nicht nur, Moralvorstellungen zu übernehmen, sondern das eigene Handeln mit Gründen, die für andere nachvollziehbar und akzeptabel sind, verantworten zu können. Wichtige Haltungen, die dabei zu entwickeln wären, sind Dialogbereitschaft, Korrekturoffenheit und das Bemühen um einen unparteilichen Standpunkt.
  • Schließlich lässt sich auch sagen: Wenn zwei Menschen in derselben Situation zu einer unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen Beurteilung derselben Handlung kommen, muss das nicht seinen Grund darin haben, dass einer von beiden nicht seinem Gewissen folgt. Es kann durchaus sein, dass beide ihrem Gewissen gemäß urteilen und handeln, dass sich die Handlung aber aus der jeweiligen Perspektive der beiden Personen unterschiedlich darstellt. Dann müsste man darüber sprechen, welche Auffassung tragfähigere Gründe oder situationsgerechter ist. Möglicherweise sind auch beide Wege ethisch vertretbar. In jedem Fall kann die Unterscheidung des Thomas, dass uns das Gewissen zwar unbedingt dazu aufruft, das Gute zu tun und das Böse zu lassen, dass es aber in der konkreten Entscheidung auch irrtumsanfällig ist, lehren, Toleranz und Respekt gegenüber anderen Wertvorstellungen und Entscheidungen zu entwickeln. Man muss sich nicht mehr gegenseitig für dumm oder böse erklären, sondern kann die Auffassung des anderen als dessen Gewissensentscheidung gelten lassen.

 

1 Eine deutsche Übersetzung dieses Textes bietet: Thomas von Aquin, Vom Gewissen. Quaestiones disputatae de veritate 16-17, lateinisch/deutsch, übersetzt und eingeleitet von Hanns-Gregor Nissing (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters, Bd. 51), Freiburg/Basel/Wien 2021.

Prof. Dr. Stephan Ernst
Stephan Ernst

Prof. em. Dr. Stephan Ernst war Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für Theologische Ethik - Moraltheologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Theologie im Fernkurs. Zudem ist er Autor von Lehrbrief 14 im Grundkurs Theologie und Lehrbrief 7 im Aufbaukurs Theologie.


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