Am 7. Oktober bin ich mit den Studierenden des Theologischen Studienjahrs an der Dormitio Abtei in der Wüste. Wir wandern die letzten sechs Tagesetappen des Israeltrails, eines Fernwanderweges, der das ganze Land von Galiläa bis Eilat von Norden nach Süden einmal durchzieht. Am vierten Tag, zur Halbzeit, legen wir einen „Wüstentag“ ein, an dem wir nicht wandern. Wir sind kurz hinter dem Ort Timna. Es ist der 7. Oktober. Jeder und jede sucht sich seinen Ort, um für sich zu sein. Unser Guide und ich bleiben am Schlafplatz, um auf das Gepäck aufzupassen. Ich bleibe auch, um zur Verfügung zu stehen, falls jemand die Stille nicht aushält, falls jemand reden möchte. Gegen 10:00 spricht mich einer unserer Studierenden an. Er hat im Internet irgendetwas über einen Überfall aus Gaza auf Israel gelesen. Ich beruhige, wiegle ab. Erst einmal abwarten. Keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Gaza ist weit weg. Der Student geht. Ein Jeep der Parkbehörde kommt – sucht nach dem oder der Gruppenverantwortlichen. Erste stichhaltige Informationen. Wir sollen Kontakt halten. Unser Guide und ich klettern auf umliegende Hügel auf der Suche nach ausreichend Internet. Erst allmählich wird uns das Ausmaß des Geschehens klar. Die Studierenden informieren, die Verwandten in Deutschland beruhigen.

Wandertour durch die Wüste; Bild: privat
Wir haben unsere Tour dann fortgesetzt. Wo wir sind, sind wir so sicher wie irgend möglich. Zwei Studierende, die krankheitsbedingt in Jerusalem geblieben sind, werden Zeugen des Beschusses der Hamas auch auf Jerusalem während der ersten Tage. Der Iron Dome, das israelische Abwehrsystem, fängt alles ab. Nach unserer Rückkehr kommt es noch ganze dreimal zum Beschuss. Geschlossene Geschäfte. Das Semester an den israelischen Universitäten auf unbestimmte Zeit verschoben, weil die meisten Studierenden und jüngeren Dozierenden als Reservisten eingezogen worden sind. Die Westbank weitgehend abgeriegelt. Angestellte der Abtei können die Checkpoints nicht passieren. Ich selbst fahre für einige Wochen nicht nach Betlehem oder Ramallah. Gedrückte Stimmung. Währenddessen greift Israel die Hamas im Gazastreifen an, macht weite Teile des Gazastreifens dem Erdboden gleich. In dem Maße, in dem der Beschuss aus dem Gazastreifen nachlässt, „normalisieren“ sich die Zustände in Jerusalem – auch andernorts im Land. Nicht im und um den Gazastreifen, nicht im Norden. Ab kurz vor Weihnachten kann man in Jerusalem beinahe beginnen zu vergessen, dass Krieg herrscht. Man könnte. Wenn man nicht Freunde auf beiden Seiten hätte.
Israel/Palästina ist ein zerrissenes Land. Der Krieg vertieft die Gräben. Einige ganz persönliche Begegnungen mögen vielleicht einige Schlaglichter darauf werfen: Ein Kollege an der Hebrew University hat Freunde, die einen Sohn haben, der auf dem Outdoor Rave bei Re’im war und unter den Geiseln ist. Freunde – besatzungskritisch und engagiert im interreligiösen Dialog – haben eine Tochter, die denselben jungen Mann ebenfalls kennt, weil sie mit einem Bruder oder einer Schwester in dieselbe Klasse geht. Auch in Israel/Palästina ist die Welt klein. In den Nächten nach dem 7. Oktober verrammelt sie die Fenster ihres Schlafzimmers – der Palästinenser im unmittelbar benachbarten Ostjerusalem wegen. Dass es in ihrem Viertel, in Abu Tor, noch nie zu Übergriffen gekommen ist, beruhigt sie nicht. Wenn sie die Schule abgeschlossen hat, will sie für den Militärdienst in eine Kampfeinheit. „She takes it personal“, so ihre Mutter. Der Bruder ist bereits beim Militär, nach der Grundausbildung als Sanitäter auch in Gaza. Bei einem Einsatz, zu dem er sich freiwillig meldet und nicht ausgewählt wird, gibt es unter den Soldaten der Einheit Tote. Angst der Eltern um den Sohn.
Eine Freundin, die ich kurz nach dem 7. Oktober besuche, hat nahe Verwandte in einem der von der Hamas überfallenen Kibuzzim verloren. Sonst ein Ort für Verwandtenbesuche in den Sommerferien. Ein Geschehen, von dem sie Details lieber gar nicht wissen will, über das ein überlebendes Familienmitglied sagt, frag lieber nicht nach. Mich fragt sie dann, ob es unter meinen palästinensischen Freundinnen und Freunden auch nur eine oder einen gäbe, die oder der die Taten der Hamas am 7. Oktober verurteilt. Ich sage: Unter meinen Freunden – alle. Sie sagt: Dann gibt es ja noch Palästinenser, mit denen man reden kann. Ich: Aber sie verurteilen auch den Angriff Israels auf Gaza, die vielen Toten.
Wenn ich palästinensische Freunde besuche, gleichgültig ob in Israel, in Ost-Jerusalem oder in den Autonomiegebieten in der Westbank, läuft Al Jazeera – Tote und Zerstörung in Endlosschleife. In der Haaretz, die vielen Israelis als links oder zu links gilt, haben die entführten und die toten Israelis ein Bild, einen Namen und eine Geschichte. Auf der Seite der Palästinenser scheinen Namen und Einzelschicksale hinter der irrsinnig hohen Zahl der Toten zu verschwinden. In Israel liest eine Minderheit Haaretz, niemand sieht Al-Jazeera. Einer befreundeten Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft, die ich lange nicht gesehen habe, begegne ich auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Juni. Sie begrüßt mich mit den Worten: Wie sollen wir unter ihnen (d.h. der jüdischen Mehrheitsbevölkerung Israels) jetzt – angesichts der vielen Toten, Verwundeten und Obdachlosen, angesichts der Perspektivlosigkeit in Gaza – noch leben?
Das Gespräch bei einem Abendessen im Haus einer Freundin – alle außer mir jüdische Israelis, mehrere haben Kinder im Militär – dreht sich um die Folgen des Krieges für die wegen des Beschusses durch die Hisbollah aus dem Libanon aus dem Norden Evakuierten, die auf absehbare Zeit nicht in ihre Häuser zurückkehren können, und um die Folgen des Krieges für die Wehrpflichtigen, viele von ihnen gerade mit der Schule fertig, junge Menschen, die nach einem Einsatz nicht zuerst den Partner oder die Partnerin anrufen, sondern die Mutter. Vom Schicksal der palästinensischen Zivilbevölkerung, von denen viele seit Monaten in Zelten leben, die in ihre Häuser nicht werden zurückkehren können, weil sie nicht mehr stehen, ist man persönlich deutlich weniger tangiert und spricht man nicht.
Während praktisch jeder Israeli jemandem persönlich begegnet ist, der in einem der von der Hamas überfallenen Kibuzzim lebte, der den von der Hamas überfallenen Outdoor Rave bei Re’im besuchte, der als Soldat in Gaza war oder der aus dem Norden evakuiert wurde, besteht zu den Bewohnern von Gaza, die Gaza nicht verlassen können, nur mittelbarer Kontakt. Palästinensische Freunde und Bekannte sind mit Freunden und Verwandten in Gaza soweit es eben geht und nur über Handy und soziale Medien in Kontakt. Das gilt auch für den Direktor der Dar-El-Kalima-Universität in Betlehem, die eine Zweigstelle in Gaza hat. Der Kollege, den er zu einer geplanten Lehrveranstaltung im Theologischen Studienjahr aus Gaza online gerne zugeschaltet hätte, hat sein Haus und seine Bibliothek bei einem Raketenangriff verloren. Die Sorge um diesen und um andere Kollegen, das Bemühen, die von ihnen empfangenen Nachrichten und Bilder einem breiteren Publikum zugänglich, ihre Stimme hörbar zu machen, lässt für die geplante Lehrveranstaltung keinen Raum. Bilder aus Gaza sind zwangsläufig immer Bilder von Betroffenen, aber keine neutrale Berichterstattung, der dann schnell mangelnde Unabhängigkeit unterstellt wird. Aber ist hier irgendeine Berichterstattung neutral?
Eine Kollegin an der Hebrew University erzählt von einer Promovendin, die des Postings eines Koranzitates wegen, mit dem sie in keiner irgendwie erkennbaren Weise auf die Taten der Hamas Bezug nimmt, von der Universität verwiesen werden soll. Eine Anhörung oder ein transparentes Verfahren wird es nicht geben. Die Kollegin versucht zu intervenieren. Ich höre ähnliches von anderen Kollegen. Manche Medien – wie die Haaretz – berichten von Vorfällen dieser Art.
Der Krieg ist auch ein Krieg der Narrative. Viele Israelis – auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis – erlebten den 7. Oktober als ein Pogrom, als ein Wiedererwachen von in einer langen Geschichte des Antisemitismus und in der Shoa wurzelnden Ängsten, als einen Verlust eines Sicherheitsgefühls, das – entgegen eines Versprechens, das über alle politischen Lager hinweg verband – auch der Staat nicht länger zu gewährleisten in der Lage ist. Palästinenser erleben eine Neuauflage der Nakhba, der mit Tod und Vertreibung einhergehenden „Katastrophe“ der Staatsgründung Israels von 1948 – oder deren Fortsetzung, eine Erinnerung daran, dass die Nakbah nie zu Ende war.
Wenige Wochen nach dem 7. Oktober halten Bashir Bashir und Amos Goldberg einen lang geplanten Gastvortrag im Theologischen Studienjahr. Sie sind Co-Herausgeber eines Buches unter dem Titel „The Holocaust and the Nakba: A New Grammar of Trauma and History“, das für die Anerkennung der Traumata der jeweils anderen wirbt, nicht um sie gleichzusetzen, sondern um die Basis für ein gemeinsames Narrativ zu schaffen. Kontrovers selbst in einer weniger angespannten Situation. Der Vortrag findet auf Wunsch der Vortragenden nur vor einem ausgewählten Publikum statt.
Mein Blick auf Israel und Palästina ist ein gebrochener – abhängig von den Zufälligkeiten persönlicher Kontakte. Manches weiß auch ich, die ich im Land lebe und es nach dem 7. Oktober nicht langfristig verlassen habe, nur aus der Presse: Die massive Zunahme gewaltsamer Ausschreitungen von Siedlern gegenüber Palästinensern im Schatten des Gazakrieges spielt sich in der Westbank an Orten ab, die ich aus diesem Grund meide. Sie sind – wieder in der Haaretz oder im +972-Magazine – gut bezeugt. Konsequenzen haben sie selten. Anhänger der aktuellen israelischen Regierung, von denen nicht wenige die vollständige Vertreibung der Palästinenser und die Annexion der Westbank fordern, zählen ebenso wenig zu meinem persönlichen Freundeskreis wie Anhänger der Hamas. Brüche kennzeichnen die Gesellschaft hier. Brüche kennzeichnen den Blick selbst noch auf das Leid, eigenes und fremdes.
Eine internationale Öffentlichkeit, die selbst nicht unmittelbar betroffen ist, muss nicht für Israel oder Palästina Partei ergreifen, aber sie darf dem Leiden der Betroffenen nicht neutral gegenüberstehen. Die Heimkehr der Geiseln und ein Ende des Sterbens in Gaza könnte akutes Leiden beenden. Mit diesem notwendigen ersten Schritt ist der Konflikt nicht beendet. Das Leid der anderen anzuerkennen wäre ein zweiter Schritt. Eigenes Leid schafft keine günstige Ausgangssituation für die Anerkennung des Leides derer, die wir auf die ein oder andere Weise für dieses Leid verantwortlich machen. Aber längst nicht alle Palästinenser und Palästinenserinnen heißen das Vorgehen der Hamas gut, und die israelische Gesellschaft ist gegenüber der eigenen Regierung und ihrer mangelnden Bereitschaft, um der Geiseln willen einem Waffenstillstand zuzustimmen und in Verhandlungen einzutreten, gespalten. Den gebrochenen Blick auf das eigene und das Leiden der anderen anzuerkennen, heißt auch anzuerkennen, dass alles Leiden einen Kontext hat. Weder für Israelis noch für Palästinenser begann alles am 7. Oktober. Deutschlands zu Recht vielbeschworene besondere Verantwortung kann nicht nur Israel, sondern muss auch Palästina gelten. Wie die Shoah deutsche Geschichte ist, ist sie Teil der Vorgeschichte der Nakhba. Dass uns Bashir Bashir und Amos Goldberg nach dem 7. Oktober baten, ihren Vortrag über Shoa und Nakbah als die identitätsbestimmenden Traumata zweier Hälften einer Gesellschaft nicht öffentlich anzukündigen, sagt viel über die aktuelle Stimmung im Land. Diese Sprachlosigkeit darf nicht das letzte Wort haben.
In der vergangenen Woche betrat ich zufällig eine Buchhandlung in Paris. Unter den ausgelegten Büchern zählte ich drei oder vier, die sich mit dem 7. Oktober beschäftigen. Die Deutung der Geschichte, die am 7. Oktober begann, hat längst begonnen – lange bevor sie Geschichte ist. Gegen die Sprachlosigkeit gilt es jetzt ein Narrativ zu finden, das auch Raum für gebrochene Blicke auf diese Geschichte hat.

Prof. Dr. Johanna Erzberger leitet seit 2019 als Dekanin das Theologische Studienjahr an der Dormitio-Abtei in Jerusalem. Sie ist Alttestamentlerin und Inhaberin des Laurentius-Klein-Lehrstuhls für Biblische und Ökumenische Theologie am Theologischen Studienjahr Jerusalem sowie Professorin der Päpstlichen Universität Sant’Anselmo in Rom, mit der das Studienjahr akademisch verbunden ist.