Paulinische Anthropologie: „Keiner ist gerecht, auch nicht einer“
Auch im Römerbrief hält Paulus selbstverständlich daran fest, „dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird ohne Werke des Gesetzes“ (Röm 3,28). Allerdings hat sich der Akzent etwas verschoben. Zwar schwingt die ekklesiologische Komponente stets mit, da Paulus nicht müde wird zu betonen, dass das Evangelium „als rettende Kraft Gottes“ allen gilt, „dem Juden zuerst und (dann) dem Griechen" (Röm 1,16), weil der eine und einzige Gott ja nicht nur ein Gott der Juden, sondern auch der Heiden ist (Röm 3,30). Aber die Argumentation, wie sie in den ersten drei Kapiteln auf die „architektonische Mitte“ des Briefes, Röm 3,21-26 und den anschließenden, eingangs zitierten Spitzensatz der Rechtfertigungslehre zuläuft, fällt deutlich anthropologischer bzw. soteriologischer aus, als es noch im Galaterbrief der Fall war. Das merkt man schon an den Begriffen, die ab Röm 1,18 die Szenerie beherrschen (Zorn Gottes; Wahrheit und Gotteserkenntnis, denen die Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen gegenübersteht), vor allem aber am Argumentationsziel, das Röm 3,9f. unter Aufnahme von Koh 7,20 in nicht mehr zu überbietender Schärfe formuliert: „Denn wir haben vorher die Anklage erhoben, dass alle, Juden wie Griechen, unter der Herrschaft der Sünde stehen, wie geschrieben steht: Es gibt keinen, der gerecht ist, auch nicht einen.“
Wie Paulus diese „Anklage“ zuvor führte, wird heute nicht mehr jedem schmecken. In Röm 1,18-32, wo er die Sünde der Heiden aufzeigen will, beleuchtet Paulus nacheinander die Perversion der Religion (1,22f.), die Perversion der Sexualität (1,25-27) und die Perversion der sozialen Beziehungen (1,28-32), wobei er seine Argumente aus dem Arsenal der hellenistisch-jüdischen Synagoge bezieht. Dieser (und damit auch Paulus) gelten die Verehrung von Gottheiten in Menschen- oder Tiergestalt (Ägypten!), also Götterbilder, ebenso als Gräuel wie die im griechischen Kulturraum durchaus akzeptierte (männliche) Homosexualität. Und was Paulus zur Perversion sozialer Beziehungen in Gestalt eines Lasterkatalogs von insgesamt 31 Lastern ausführt (1,29-31), übrigens der längste Lasterkatalog im gesamten Neuen Testament, könnte geradewegs vom jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien stammen (ca. 20 v.Chr. – 50 n.Chr.), der noch weitaus umfangreichere Kataloge mit heidnischen Lastern zusammenstellt.
Wer als messiasgläubiger jüdischer Leser, d.h. als Judenchrist, bei der Lektüre des Briefes bislang zur Auffassung gelangt sein sollte „Das betrifft mich ja nicht!“, hat die Rechnung allerdings ohne den Wirt, hier Paulus, gemacht. Denn die in Röm 2,1 zunächst noch ganz unspezifisch daherkommende Argumentation („Mensch“) zielt direkt gegen das vor allem in der Diaspora verbreitete jüdische Selbstverständnis, das im Gesetz die entscheidende differentia specifica zu den übrigen Völkern ausmacht und sich darauf auch etwas einbildet, wie aus Röm 2,17 unmittelbar erhellt. Dem daraus resultierenden Idealbild, das sich wenigstens z.T. in außerbiblischen jüdischen Quellen belegen lässt, stellt Paulus in 2,21-23 ein Zerrbild gegenüber, das es in sich hat und seinem fiktiven jüdischen Gesprächspartner einen Widerspruch zwischen Lehre und Praxis unterstellt. Vor allem der neben Diebstahl und Ehebruch genannte Tempelraub ist starker Tobak und galt im Altertum als eines der schwersten Verbrechen überhaupt. Dass Juden heidnische Tempel ausgeraubt haben sollen, ist indessen schwer vorstellbar (und auch nicht belegt; soweit geht selbst die antijüdische Polemik nicht), erst recht nicht, dass der Jerusalemer Tempel zum Beuteobjekt wurde. Vielleicht denkt Paulus an den Handel mit heidnischen Götzenbildern und Kultgegenständen, der eigentlich verboten war, aber gute Gewinnmargen bot (vgl. Dtn 7,25). Wie dem auch sei: Die Massivität und Undifferenziertheit der Anschuldigung entspricht den gröbsten antijüdischen Verleumdungen heidnischer Schriftsteller und lässt sich nur aus dem paulinischen Interesse erklären, dass er nahezu um jeden Preis „Beweise“ für seine These sucht, dass Rechtfertigung aus eigener Kraft niemals gelingen kann. Auch nicht mit Hilfe des Gesetzes, „denn durch das Gesetz“, so Paulus in Röm 3,20, „kommt es nur zur Erkenntnis der Sünde“.