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Theologische Blickpunkte
Theologische Blickpunkte
Transzendenz im Plural
15. Dezember 2025
John Cage Orgel Kloster St. Burchardi Halberstadt, Clemensfranz, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Wenn Sie sich in dieser Gesellschaft auf die Suche nach Menschen machen, die miteinander etwas Neues beginnen, würde sie auf das Orgelstück „ASLP As slow as possible“ von John Cage stoßen, das in der St. Buchardi Kirche in Halberstadt aufgeführt wird. Es dauert 639 Jahre. Der nächste Klangwechsel in dieser „revolution in slowness“ wird am 5. August 2026 sein. Oder Sie würden Marina Abramovic treffen im Modern Art Museum in New York. In ihrer Performance „The Artist is present“ von 2020 konnte man sich 3 Monate acht Stunde täglich auf einem Stuhl ihr gegenübersetzen. Sie blickte jeden Menschen an, konzentriert, im Hier und Jetzt, aufmerksam, nicht wertend. Auch das ist eine Revolution – in Empathie. Eine Revolution der Entschleunigung, John Cage, in Empathie, Marina Abramovic: Würden Sie in dieser Reihe auch auf Christinnen und Christen stoßen, die miteinander etwas revolutionär Neues beginnen?
Marina Abramovic, The Artist Is Pressent, Andrew Russeth from New York, New York, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons
Üblicherweise wird das Christentum als eine bewahrende Kraft wahrgenommen. Seine Aufgabe ist die getreue Wiedergabe, high fidelity, des christlichen Glaubens. Martin Heidegger entwickelt dieses bewahrende Moment in seiner Analyse der urchristlichen Lebenserfahrung: „Die christliche faktische Lebenserfahrung ist dadurch historisch bestimmt, dass sie entsteht mit der Verkündigung, die den Menschen in einem Moment trifft und dann ständig mitlebendig ist im Vollzug des Lebens.“[1] Christlicher Glaube entsteht in der Rezeption einer Ausdrucksgestalt, die nicht von dem Einzelnen hervorgebracht wird, sondern die ihm überliefert wird und die ihn in der Verkündigung des biblischen Zeugnisses „in einem Moment trifft“.
Dieses rezeptive Modell setzt „bei Strafe des regressus ad infinitum“[2] aber zwingend jemanden voraus, der es hervorgebracht hat. Rudolf Otto nennt diese produktive Seite der Religion „das Vermögen der Divination“[3]. Beide Seiten, etwas Neues zu beginnen, und sich tradierte Formen anzueignen, gehören zwar zusammen. Produktivität gibt es nicht ohne ein Moment der Rezeption. Und Rezeption gibt es nicht ohne ein produktives Moment. Sonst wird sie zur mechanischen Repetition degradiert.[4] Aber mit dem Schöpferischen ist eine Diskontinuität, ein Neuanfang verbunden, der die Produktivität von der Rezeptivität trennt.
Im Fall des Christentums begründet dieser Neuanfang sein charismatischer Stifter. Die Frage ist jedoch: Handelt es sich um einen einmaligen Aufbruch? Ist die Geschichte des Christentums eine 2000 Jahre während Erinnerung an einen revolutionären Neuanfang, der in Christus stattgefunden hat?
Oder handelt es sich bei Christus um eine Inspirationsquelle, die uns auch heute erlaubt Neues zu beginnen? Die Kulturgeschichte des Christentums ist doch ein beredtes Zeugnis des innovativen Potentials des christlichen Glaubens, also seiner Fähigkeit Neues zu beginnen.[5]
Friedrich Schleiermacher, Kupferstich von Johann Heinrich Lips, Public Domain via Wikimedia Commons
Friedrich Schleiermacher ist einer der protestantischen Theologen des 19 Jahrhunderts, der nicht nur einen Sinn hatte für das Schöpferische, das dem christlichen Glauben innewohnt und das Grundlage aller Kunstproduktion ist. Er ist auch der Theologe im Horizont der Aufklärung, der der Religion eine eigene Provinz im menschlichen Gemüt sichert und mit der Kunst verbindet. Kunst und Religion stehen in einem Wechselverhältnis. Religion kann nicht ohne Kunst, die ihre Sprache ist, noch Kunst ohne Religion, die in ihr den höchsten Inhalt hat. Allerdings ist dieses Verhältnis nicht symmetrisch, keine Beziehung gleichberechtigter Partner, sondern es steht unter der Regie der Religion.
Wie sieht diese Verbindung von Kunst und Religion nun genauer aus? In seiner „Ästhetik“ geht Schleiermacher von einer Kreativität in uns allen aus. „Es singt […] in allen Menschen beständig, wie es in allen bildet.“[6] Aufschlussreich für diese allgemeine Kreativität, ist die Analogie zum Traum:[7]
Zum einen zeigt sich im Traum eine unablässige „Gedanken- und Bilderzeugung,“ mit der wir den Gegensatz zur Welt innerlich verarbeiten. Die Bilder in unseren Träumen sind „rein vom Seyn unabhängige“. Es sind keine wahrheitsfähigen Projektionen der Wirklichkeit, „nichts wodurch wir [das] was ist, erfahren oder bezeichnen wollen, sondern [es sind Projektionen unserer] inneren Productivität.“[8]
Gerade deshalb handelt es sich - und das ist der zweite Punkt - um eine „freye Productivität“. Die Traumbilder sind freie Schöpfung des Unbewussten, würde man, belehrt durch Freuds Traumanalyse, sagen.
Da die inneren Bilder unterschiedslos ineinander übergehen, kann man diesen Strom einer freien Produktivität in uns allen nur schwer greifen. Deshalb zeigt die Analogie zum Traum drittens, dass die Kreativität in uns allen der Gestaltung bedarf, um mitteilbar zu werden. Genau das leistet die Kunst. Sie ist die „Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, ein Spiel, und hat keinen anderen Gegenstand als den Gegensatz [von Mensch und Welt] selbst.“[9]
Verfolgt man nun die Kunsttätigkeit des Künstlers, dann stößt man auf eine, der psychoanalytischen Traumdeutung vergleichbare Leistung. Der Künstler muss sich einerseits auf den unmittelbaren Strom der inneren Bilder einlassen, also träumen, und zugleich bewusst festhalten, was ihm dabei zufällt, also wachen. Schleiermacher nennt diese schwebende Aufmerksamkeit, die an die Haltung des Psychoanalytikers erinnert, das „wachende Träumen des Künstlers.“[10] Ein Künstler träumt gewissermaßen mit offenen Augen. Kunst ist ein, der Psychoanalyse vergleichbares, Bewusstmachen einer dunklen inneren Schaffenskraft in uns allen – und das macht auch ihre gesellschaftliche Bedeutung aus.
Ein Beispiel: Max Ernst, der Maler und Surrealist, der Freuds Psychoanalyse studiert, geht vom uninterpretierten Bildmaterial des Traums als Quelle seiner Kunst aus, ähnlich wie Schleiermacher. Max Ernst erfindet nun Techniken, wie die Frottage, in der sich die Formen unmittelbar wie in den Träumen entwickeln, ohne die kritische Kontrolle durch das wache Bewusstsein.[11] Trotzdem muss auch Max Ernst dem Einfall, der aus dem Unbewussten aufsteigt, eine kohärente Form geben, um ihn anderen mitzuteilen. Mit dieser Ausarbeitung beginnt die Kunst, in Schleiermachers Terminologie die Ur-Bildung, die Konzeptualisierung des Einfalls zu einem Kunstwerk: „Die Kunst fängt erst an, wo in freyer Gedanken- und Bilderzeugung Maß und Ordnung ist, Einheit und Mannigfaltigkeit auf bestimmte Weise auseinandertritt.“[12]
Eine Pointe von Schleiermachers Kunstbegriff scheint mir nun zu sein, dass der Künstler weder den Einfall, das Urbild noch die Vollendung des Werks in einem neuen Gesamteindruck in der Hand hat. William James zitiert einen Brief von Wolfgang Amadeus Mozart als Beispiel für einen Gesamteindruck, “all at once” der in einer lebendigen Entwicklung der Form allenfalls antizipiert werden kann:
“First bits and crumbs of the piece come and gradually join together in his mind; then the soul getting warmed to the work, the things grows more and more `and I spread it out broader and clearer, and at last it gets almost finished in my head, even when it is a long piece, so that I can see the whole of it at as single glance in my mind, as if it were a beautiful painting […]; in which I do not hear it in my imagination at all as a succession – the way it must come later – but all at once as it were […]. All the inventing and making, goes in in me as in a beautiful strong dream. But the best of it all is the hearing of it all at once.´“[13]
[1] Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 2011, 116f.
[2] Matthias Jung, Religion und Erfahrung. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg i. Breisgau/München 1999, 326.
[3] Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1963, 173ff.
[4] Vgl. Thomas Erne, Art. Rezeption III. Praktisch-theologisch, TRE 29 (1998), 149−155, 151.
[5] Vgl. Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2018.
[1] Friedrich Schleiermacher, hg. v. Thomas Lehnerer, Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (18312/32), Hamburg 1984, 18.
[2] Vgl. Friedrich Schleiermacher, hg. v. Holden Kelm, Ästhetik (1832/33). Über den Begriff der Kunst (1831-33), Hamburg 2018, 53.
[3] schleiermacher, Ästhetik (1832/33), 54.
[4] Ebd., 26.
[1] Ebd., 54.
[1] Vgl. Max Ernst, hg. v. Werner Spies u.a., Max Ernst. Retrospektive, Ostfildern 2013, 34.
[2] Schleiermacher, Ästhetik (1832/33), 55.
[1] William James, The Principles of Psychology, Newburyport 2012, 255. Zu Lessings These, dass das Bild die simultane Fülle der Form im Raum und die Musik die sukzessive Entwicklung der Form in der Zeit zum Ausdruck bringt: vgl. Dirk Westerkamp, Ikonische Prägnanz, Paderborn 2015. Zur Formel “all at once” bei Clement Greenberg, vgl. Michael Moxter, All at once? Simultaneität, Bild, Repräsentation, in: Philipp Stoellger/Thomas Klie (Hg.), Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, Tübingen 2011,129−144.
Prof. Dr. Thomas Erne war Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg und Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart.