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Friedrich Nietzsche ist der Meinung, dass jemand, der das Christentum völlig verlernt hat, es in Bachs Matthäuspassion wie ein Evangelium hört. Für Nathan Söderblom sind die Vertonungen der Erlösungsgeschichte mit ihrem Höhepunkt bei J.S. Bach das „fünfte Evangelium“. Karl Barth ist da skeptischer. Für ihn ist Bachs Musik eine „unwiderstehlich sich aufdrängende hohe, ganz hohe Kunst, die als solche Respekt, Verständnis, Bewunderung in Anspruch nimmt, als solche sich selbst verkündigt. Sehen Sie, da sitzen meine Schwierigkeiten.“1 Kann Musik den Zugang zu Gott erschließen? Kann sie in gewisser Weise „Theo-logie“, Rede von Gott sein? Oder redet sie bestenfalls von sich selbst?

Mehr als Worte sagen können – Musik als elementares menschliches Ausdrucksmedium

Es besteht kein Zweifel daran, dass Musik ganz ursprünglich zum Menschsein gehört. Das kleine Kind, das zum ersten Mal „Mama“ ruft, hat schon eine kleine Terz gesungen und damit Musik gemacht. Wer eine frohe Nachricht erhalten hat, pfeift unwillkürlich eine frohe Melodie vor sich hin. Bei Begräbnisfeiern werden die Augen der Trauernden feucht, wenn die Musikkapelle einen Choral spielt. Mancher Mensch ist nicht fähig, seine Gefühle in Worte zu fassen, aber er setzt sich an die Orgel und improvisiert; und wer ihm zuhört, ahnt, was in seinem Herzen vorgeht. Musik kann mehr ausdrücken, als Worte sagen können.

Mehr als Worte sagen können – der unbegreifliche Gott

Von Gott glauben wir Christen, dass er unsere Worte und Begriffe übersteigt. Wenn wir Gott „Vater“ oder „Mutter“ nennen, dann meinen wir damit: Er hat Züge, die denen eines irdischen Vaters oder einer Mutter ähnlich sind. Aber zugleich ist er ganz anders als ein menschlicher Vater oder eine menschliche Mutter. Die Unähnlichkeit ist größer als die Ähnlichkeit. Alles Reden von Gott ist „analog“ – so nennen es Theologinnen und Theologen in ihrer Fachsprache.

Auch andere Religionen sind von der Überzeugung getragen, dass es eine Wirklichkeit gibt, die unsere vordergründige Erfahrungswelt übersteigt. Unser Reden und Begreifen kommt an seine Grenze. Kein Wunder, dass in allen Religionen Musik einen Platz hat – kann sie doch mehr ausdrücken, als Worte sagen können. Musik spricht von Gott, ist „Theo-logie“ ohne Worte, Hinweis auf eine Wirklichkeit jenseits unseres Sprechens und Begreifens.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Hebräische Bibel auffordert, Gott zu loben mit Harfe und Leier, mit Trommel und Reigentanz (vgl. Ps 150). Und der Kolosserbrief ruft dazu auf, Gott Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder zu singen (Kol 3,16).

Die theo-logische Dimension „weltlicher“ Musik

Musik ist Hinweis auf den Größeren, den Unbegreiflichen. Das gilt nicht nur für Musik in der Liturgie und für Vertonungen biblischer Stoffe, sondern auch für sogenannte „profane“ Musik.

- Anton Bruckner, dessen 200. Geburtstag wir dieses Jahr am 4. September feiern, hat nicht nur Messen und geistliche Chorwerke geschrieben, sondern auch sinfonische Musik. Wer seine Sinfonien hört, entdeckt in ihnen viel kraftvolle Vitalität, aber auch demütiges Sich-Zurücknehmen. Er spürt Freude an der Natur genauso wie das Ringen mit der Schrecklichkeit des Todes. Er erahnt dabei etwas von dem tiefsten Geheimnis, aus dem alles Leben, alle Energie, alles Frohe und Schöne, aber auch alles Schreckliche kommt, und in dem alles Furchtbare letzten Endes aufgehoben ist.

- Wer Schuberts „Winterreise“ hört, wird mit viel Schmerz, Enttäuschung, Verlassenheit und Einsamkeit konfrontiert. Vielleicht spürt er aber auch etwas davon – und sonst würde er wohl die Musik gar nicht hören wollen –, dass all das nicht das letzte Wort hat.

Wenn alle Dinge der Welt von Gott sprechen und ein Hinweis auf seine verborgene, geheimnisvolle Gegenwart sind, dann gilt das auch für die Musik. Wer nicht beim Äußerlichen und Technischen stehen bleibt, sondern sich im Inneren berühren lässt, für den kann nicht nur sakrale, sondern auch profane Musik zum Medium der Gottbegegnung werden. Im Grunde gibt es nichts rein Profanes; das sogenannte „Sakrale“ unterscheidet sich vom Profanen vielmehr dadurch, dass die Tiefendimension aller Dinge in stärkerem Maß ausdrücklich thematisiert und sprachlich artikuliert wird. Das „Sakrale“ ist wichtig und unersetzbar, weil sonst das Bewusstsein verlorengehen würde, dass Gott in allem zu finden ist.

Bachstatue Leipzig

Bachstatue Leipzig; Bild von falco auf Pixabay

Helmut Gabel

Dr. Helmut Gabel ist Domkapitular, Hochschulreferent der Diözese Würzburg und Vorstandsvorsitzender der Abbé-Vogler-Musikstiftung zur Förderung und Pflege der Kirchenmusik im Bereich der Diözese Würzburg. Für Theologie im Fernkurs verfasste er den Grundtext des Lehrbriefs 24 im Grundkurs Theologie zum Thema „Christliche Spiritualität“.


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