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Theologische Blickpunkte
Theologische Blickpunkte
Musik als theo-logie
01. Juli 2024
Friedrich Nietzsche ist der Meinung, dass jemand, der das Christentum völlig verlernt hat, es in Bachs Matthäuspassion wie ein Evangelium hört. Für Nathan Söderblom sind die Vertonungen der Erlösungsgeschichte mit ihrem Höhepunkt bei J.S. Bach das „fünfte Evangelium“. Karl Barth ist da skeptischer. Für ihn ist Bachs Musik eine „unwiderstehlich sich aufdrängende hohe, ganz hohe Kunst, die als solche Respekt, Verständnis, Bewunderung in Anspruch nimmt, als solche sich selbst verkündigt. Sehen Sie, da sitzen meine Schwierigkeiten.“1 Kann Musik den Zugang zu Gott erschließen? Kann sie in gewisser Weise „Theo-logie“, Rede von Gott sein? Oder redet sie bestenfalls von sich selbst?
Es besteht kein Zweifel daran, dass Musik ganz ursprünglich zum Menschsein gehört. Das kleine Kind, das zum ersten Mal „Mama“ ruft, hat schon eine kleine Terz gesungen und damit Musik gemacht. Wer eine frohe Nachricht erhalten hat, pfeift unwillkürlich eine frohe Melodie vor sich hin. Bei Begräbnisfeiern werden die Augen der Trauernden feucht, wenn die Musikkapelle einen Choral spielt. Mancher Mensch ist nicht fähig, seine Gefühle in Worte zu fassen, aber er setzt sich an die Orgel und improvisiert; und wer ihm zuhört, ahnt, was in seinem Herzen vorgeht. Musik kann mehr ausdrücken, als Worte sagen können.
Von Gott glauben wir Christen, dass er unsere Worte und Begriffe übersteigt. Wenn wir Gott „Vater“ oder „Mutter“ nennen, dann meinen wir damit: Er hat Züge, die denen eines irdischen Vaters oder einer Mutter ähnlich sind. Aber zugleich ist er ganz anders als ein menschlicher Vater oder eine menschliche Mutter. Die Unähnlichkeit ist größer als die Ähnlichkeit. Alles Reden von Gott ist „analog“ – so nennen es Theologinnen und Theologen in ihrer Fachsprache.
Auch andere Religionen sind von der Überzeugung getragen, dass es eine Wirklichkeit gibt, die unsere vordergründige Erfahrungswelt übersteigt. Unser Reden und Begreifen kommt an seine Grenze. Kein Wunder, dass in allen Religionen Musik einen Platz hat – kann sie doch mehr ausdrücken, als Worte sagen können. Musik spricht von Gott, ist „Theo-logie“ ohne Worte, Hinweis auf eine Wirklichkeit jenseits unseres Sprechens und Begreifens.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Hebräische Bibel auffordert, Gott zu loben mit Harfe und Leier, mit Trommel und Reigentanz (vgl. Ps 150). Und der Kolosserbrief ruft dazu auf, Gott Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder zu singen (Kol 3,16).
Musik ist Hinweis auf den Größeren, den Unbegreiflichen. Das gilt nicht nur für Musik in der Liturgie und für Vertonungen biblischer Stoffe, sondern auch für sogenannte „profane“ Musik.
- Anton Bruckner, dessen 200. Geburtstag wir dieses Jahr am 4. September feiern, hat nicht nur Messen und geistliche Chorwerke geschrieben, sondern auch sinfonische Musik. Wer seine Sinfonien hört, entdeckt in ihnen viel kraftvolle Vitalität, aber auch demütiges Sich-Zurücknehmen. Er spürt Freude an der Natur genauso wie das Ringen mit der Schrecklichkeit des Todes. Er erahnt dabei etwas von dem tiefsten Geheimnis, aus dem alles Leben, alle Energie, alles Frohe und Schöne, aber auch alles Schreckliche kommt, und in dem alles Furchtbare letzten Endes aufgehoben ist.
- Wer Schuberts „Winterreise“ hört, wird mit viel Schmerz, Enttäuschung, Verlassenheit und Einsamkeit konfrontiert. Vielleicht spürt er aber auch etwas davon – und sonst würde er wohl die Musik gar nicht hören wollen –, dass all das nicht das letzte Wort hat.
Wenn alle Dinge der Welt von Gott sprechen und ein Hinweis auf seine verborgene, geheimnisvolle Gegenwart sind, dann gilt das auch für die Musik. Wer nicht beim Äußerlichen und Technischen stehen bleibt, sondern sich im Inneren berühren lässt, für den kann nicht nur sakrale, sondern auch profane Musik zum Medium der Gottbegegnung werden. Im Grunde gibt es nichts rein Profanes; das sogenannte „Sakrale“ unterscheidet sich vom Profanen vielmehr dadurch, dass die Tiefendimension aller Dinge in stärkerem Maß ausdrücklich thematisiert und sprachlich artikuliert wird. Das „Sakrale“ ist wichtig und unersetzbar, weil sonst das Bewusstsein verlorengehen würde, dass Gott in allem zu finden ist.
Ist „profane“ Musik für einen religiös sensiblen Menschen oft ein verhaltener Hinweis auf eine transzendente Wirklichkeit, so bringt „sakrale“ Musik häufig sehr ausdrücklich und unmittelbar Glaubensinhalte zum Ausdruck.
- Im Credo der h-moll-Messe Bachs z.B. greift der Alt zu den Worten „Et in unum Dominum Jesum Christum“ (ich glaube an den einen Herrn Jesus Christus) genau die Melodie des Soprans auf; das dadurch entstehende kanonartige Gebilde drückt musikalisch die Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater aus!
- In den Messen Bruckners kehrt im Credo das Motiv, mit dem der Komponist den Glauben an den Vater bekennt, beim Bekenntnis des Sohnes und des Hl. Geistes exakt wieder: Bruckner zeigt mit musikalischen Mitteln, dass das christliche Glaubensbekenntnis eine trinitarische Struktur hat!
Wenn von der Musik als Transzendenzverweis gesprochen wird, gilt es jedoch auch einige Einschränkungen zu machen. Karl Barth hat durchaus auch etwas Richtiges gesehen: Musik kann den Blick auf Gott auch verstellen. Der brillante Konzertorganist kann, wenn er einen Gottesdienst ohne liturgische Sensibilität begleitet, so sehr die eigene Virtuosität in den Vordergrund stellen, dass der Blick auf den Größeren, um den es im Gottesdienst geht, verlorengeht. Oder der schlechte Organist kann die ganze besinnliche Atmosphäre zerstören, zu der die Gottesdienstleiterin bzw. der Gottesdienstleiter mit ihren bzw. seinen Worten hinführen will.
Musik kann darüber hinaus missbraucht werden: Militärmusik dient nicht dazu, die Seele zu Gott zu erheben, sondern will Menschen gleichschalten, gefügig machen und ihre Aggressionen in eine gemeinsame Richtung lenken. Musik der rechtsradikalen Szene versteht es, Menschen zu fanatisieren. Musik ist nicht immer Hinweis auf den Größeren, Unverfügbaren, nicht immer „Symbol“ Gottes, sondern kann auch zum „Diabol“ werden, den Blick auf die Weite und Menschenfreundlichkeit Gottes verstellen und gott- und menschenfeindlichen Mächten dienen.
Musik kann Transzendenzverweis sein. Doch im Musikbetrieb geht es oftmals sehr menschlich, ja „allzu-menschlich“ zu. Mancher, der Musikerinnen bzw. Musiker verehrt und idealisiert, ist zutiefst enttäuscht, wenn er mitbekommt, wie viel Konkurrenz und Intrigen es unter ihnen gibt. Oder jemand versucht mit Musikerinnen bzw. Musikern über deren Werk zu sprechen, das von ihnen gerade so berührend nahegebracht wurde, und ist enttäuscht, dass diese dazu nur etwas Banales und Technisches zu sagen wissen. Manche, die Musik komponiert haben, und manche Dirigentinnen bzw. Dirigenten, die mit ihrer Musik die Herzen der Menschen angerührt haben, waren in ihrem persönlichen Leben unausstehliche Menschen. Und doch waren sie Medium eines Größeren – ähnlich wie ja auch manche, die der Liturgie vorstehen, im Alltag nicht unbedingt die einfühlsamsten und glaubwürdigsten Seelsorgerinnen bzw. Seelsorger sind; und dennoch erahnen die Mitfeiernden in der Liturgie etwas von dem Gott, den diese Liturginnen bzw. Liturgen durch ihren Dienst bezeugen. Die menschliche Begrenztheit der „Ausführenden“ ist für Gott anscheinend kein Hindernis – trotz allem bringt er sich zum Ausdruck und bewegt die Herzen. Auch für die Musiker gilt, was Paulus von den Verkündigern sagt: Sie tragen einen Schatz in „zerbrechlichen Gefäßen“ (vgl. 2 Kor 4,7).
Als ich einmal im Würzburger Dom einen Gottesdienst in der Fastenzeit hielt, improvisierte der Domorganist zum Einzug. Es waren vom ersten Akkord an ernste Töne, nicht traurig oder bedrückend, aber eindringlich und gewichtig. Die Orgel brachte zum Ausdruck: Es geht um etwas Wichtiges, dem du dich mit allem Ernst stellen solltest. Ich hatte den Eindruck: Ich brauche in meiner Einleitung gar nicht mehr viel zum Sinn der Fastenzeit zu sagen. Der Organist hat schon gepredigt.
Wenn Worte, Ritus und Musik eine solche Einheit bilden, ist das eine liturgische Sternstunde.
Man muss solche Erlebnisse nicht dem Zufall überlassen. Eine gute Abstimmung zwischen Kirchenmusikerinnen bzw. -musikern und Gottesdienstleiterin bzw. -leiter im Vorfeld ist kein Luxus. Wenn die Musizierenden rechtzeitig wissen, worauf es der Gottesdienstleitung ankommt und welche Gedanken diese im Gottesdienst nahebringen will, können sie sich darauf einstellen. Dann können beide so zusammenwirken, dass die liturgische Feier ein Ort der Gottbegegnung wird. Dann kann Musik in der ihr eigenen Art ohne Worte von Gott sprechen, „Theo-logie“ sein.
1Karl Barth, Brief an Hanni Strahtenwert, Basel, Karl-Barth-Archiv 9260.75.
Dr. Helmut Gabel ist Domkapitular, Hochschulreferent der Diözese Würzburg und Vorstandsvorsitzender der Abbé-Vogler-Musikstiftung zur Förderung und Pflege der Kirchenmusik im Bereich der Diözese Würzburg. Für Theologie im Fernkurs verfasste er den Grundtext des Lehrbriefs 24 im Grundkurs Theologie zum Thema „Christliche Spiritualität“.